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Israel – Schlüsselfrage des reformatorischen Schriftprinzips

Dr. W. Nestvogel erhebt in einem aktuellen Artikel („Zeitschrift für aktive Christen – Fest und treu“: „Die Israel-Frage als Testfall“) die Erkenntnis bezüglich Israel zur Schlüsselfrage für das allgemeine Schriftverständnis. Darin sei ihm zunächst durchaus zugestimmt. Auch der bekannte evangelikale, dispensationalistische Theologe Charles Ryrie erkärt ohne Umschweife.

„Das Wesen des Dispensationalismus liegt also in der Unterscheidung zwischen Israel und der Kirche. Diese erwächst aus der konsequenten Anwendung der normalen oder einfachen Auslegung, und sie spiegelt ein Verständnis der Grundabsicht Gottes in allen seinen Regierungswegen mit der Menschheit wieder, durch die Errettung und auch durch andere Mittel sich selbst zu verherrlichen.“

Es sind demnach weniger Fragen des Endzeitverständnisses (Amillenialismus vs Dispensationalismus), oder die oft als Hauptmerkmal des Dispenstaionalismus angeführten „Haushaltungen“ (Bündnisse vs Haushaltungen „Dispens“), als vielmehr grundlegende hermeneutische Überlegungen im Hinblick auf die Ekklesiologie (siehe dazu auch den Artikel „Definition des Dispensationalismus“ von S. Heck).

Widerspruch erfordert, die von Dr. W. Nestvogel vorgenommene, allerdings unzutreffende „grundsätzliche Gegenüberstellung“ eines ethnischen Israelverständnisses, mit der sogenannten Beerbungs- bzw. „Ersetzungslehre“ (Substitutionstheorie), welche er den Reformierten unterstellt. Dies ist ein offenkundiges und -leider auch nicht redliches- Strohmannargument, da dies in dieser Weise nicht gelehrt. Er müsste es als ehemaliger Rektor und Dozent der ART besser wissen.

Auf Grundlage einer tatsächlich reformatorischen Hermeneutik- auf welche sich auch Nestvogel beruft- kann man, so meine ich, in Bezug auf Israel weder zu einem rein wortwörtlichen (=ethnischen), wie auch zu keinem bloß sinnbildlichen (Gemeinde ersetzt Israel) Israelverständnis gelangen. Vielmehr wird durch eine reformatorische Hermeneutik deutlich, dass von Anfang an ein entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit zu Israel galt und bis heute gilt.

Wie begründet Dr. W. Nestvogel seine- offenkundig auf Irtümern basierende- Gegenüberstellung?

Irrtum 1
Dr. W. Nestvogel spricht sowohl den historischen Reformatoren wie auch den modernen Reformierten ab, die Schrift im Hinblick auf Israel dem einfachen Schriftsinn nach auszulegen, unterstellt ein allegorisches Schriftverständnis. Für seine eigene Position nimmt Nestvogel dagegen in Anspruch, dem reformatorischen Literalsinn („buchstäblich“, wie er diesen versteht) gerecht zu werden.

Dr. Nestvogel irrt. Das reformatorische Prinzip des claritas scripturae- der Klarheit der Schrift- bedeutet keineswegs Texte buchstäblich zu interpretieren und eine geistliche Interpretationen auszuschließen, sondern vielmehr Texte unter historischen und grammatischen Gesichtspunkten zu analysieren damit deren ursprünglich gemeinte Bedeutung erfasst werden kann.

Weiterhin existiert ein entscheidender Unterschied zwischen „literal“ (Wortsinn) und „literalistisch“ (buchstäblich). Das reformatorischen Prinzip der Klarheit der Schrift schließt weder eine sinngemäße Interpretation umgangssprachlicher Formulierungen, noch das Vorhandensein von Bildern oder Symbolen aus, erkennt schlicht die Existenz unterschiedlicher Textgattungen an. Eine wortwörtliche Interpretation der Schrift würde in der Regel oft zu hanebüchenen Ergebnissen führen. Der Forderung Nestvogels und anderer Dispensationalisten nach strikter, buchstäblicher Wortwörtlichkeit werden zudem selbst die klassischen Dispensationalisten (Scofield etc.) nicht durchgängig gerecht.

Der Vorwurf einer „allegorischen Auslegung“ trifft auf die reformierte Bundestheologie also nicht zu. Diese begreift die biblischen Texte lediglich als das was sie in Wirklichkeit sind: Literatur unterschiedlicher Textart und legt diese im Rahmen der bekannten reformatorischen Prinzipien aus.

Irrtum 2
Dr. W. Nestvogel irrt weiterhin, wenn er der Bundestheologie unterstellt, diese würde sich die Substitutionstheorie (Ersatztheologie) zu eigen machen. Die reformierte Bundestheologie versteht sich– und erfüllt dieses Verständnis inhaltlich auch– als „Erfüllungstheologie“. Auch nach allgemeinem reformatorischen Verständnis, werden Gläubige aus den Heiden und Israel durch Christus zu dem „einen neuen Menschen“ (Eph2), werden Heiden in das Israel Gottes „eingepfropft“ (Röm11). Das alttestamentliche Israel ist nach reformierter Überzeugung Bild und Schatten des neutestamentlichen Gottesvolkes bzw. dessen Beginn, steht in einem Verhältnis der Kontinuität und Diskontinuität zueinander, welches in der Kirche seine vollständige Erfüllung findet, Israel der „Anfang von Christus“ die Kirche die „volle Reife“ (Heb5/6).

Die Bundestheologie vertritt demnach keine „Ersetzung“ Israels. Dies ist eine bewußte Verdrehung der Wahrheit, eine Lüge! Unter „Israel“ und „Jude“ wird das verstanden, was der Apostel Paulus beispielsweise den Römern schreibt: „nicht der ist ein Jude, sondern der ist ein Jude“ (Röm2:28-29) und dies mit der inwendigen Beschneidung verbindet. Es ist demnach der Apostel, der die Zugehörigkeit zu Israel nicht biologisch oder ethnisch, sondern an den Glauben an Christus knüpft. Die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden, „die Zwischenwand der Umzäunung“ (Eph2) ist in Christus ein für allemal niedergerissen und das ungläubige Israel eine Nation wie jede andere. Dies sagt Petrus den ersten Christen als er vom jüdischen Hohen Rat zurückkam (Apg4:27). Eine „ethnisch-nationale Dimension Israels“ hat in der Weise ohnehin nie existiert.

Ein solches Verständnis ist ein Phänomen der Moderne. Das „Konstitutivum“ der Zugehörigkeit zu Israel, war das Zeremonialgesetz bzw. die Beschneidung d. h. kultischer Natur. Aus dem Heiden Abram, wurde durch die inwendige (=Herz) bzw. äußere Beschneidung (=Vorhaut), Abraham, der „Vater“ aller Gläubigen (Röm4:11-12).

Bereits die Propheten des AT unterschieden zwischen dieser äußeren bzw. inneren Beschneidung (bspw. Hes44:7). Und so wie nicht jeder Angehörige des alttestamentlichen Israel zu dem gläubigen „Überrest“ des Gottesvolkes gehörte, kennt auch das reformatorischen Verständnis einen vermischten Leib (corpus permixtum), in welchem wahrhaft Gläubige und Heuchler, ihre Sünden bedauernde, gerechtfertigte Sünder und Unbußfertige miteinander vermengt sind (bspw. Mt13:36ff). Es ging und geht immer um die Beschneidung des Herzens, also den Glauben. Wer äußerlich aber nicht innerlich beschnitten war, gehörte auch im AT nicht zum wahren Israel, nicht zu dem gläubigen Überrest den sich Gott immer bewahrt hat. Dasselbe gilt auch im NT. Es gibt viele getaufte Christen, die aber innerlich nie durch den Geist getauft wurden.

Fazit
Wenn man also über Verheißung, Erfüllung, Israel, Gemeinde und die Frage der Hermeneutik nachdenkt, erscheint als angebracht über Abraham und Christus zu sprechen. Abram, bekam von Gott mit dem Bund drei Verheißungen:

– Land
– Nachkommenschaft
– Segen

Diese Verheißungen und auch deren Erfüllung wurde aus Sicht Israel‘s tatsächlich wortwörtlich verstanden. Aus dem Neuen Testament wissen wir jedoch, dass diese Verheißungen eine viel weitreichendere Bedeutung (Gal5:15ff) besaßen, eine Bedeutung, die das Volk Israel nicht erkannte, nicht erkennen konnte denn es lag eine „Decke“ auf ihren Augen (2Kor 3,14-16) die erst in Christus weggetan wurde.

Der tatsächliche Verheißungserbe CHRISTUS, sollte jedoch nicht nur ein Segen für Israel, sondern letztendlich die ganze Welt sein (1Mo12:1ff). Interessant auch, dass der Segen von der Reaktion der anderen „Abraham“ gegenüber abhängen sollte. Gott sagt, dass er die Menschen segnen wird, die Abraham segnen, und jene verfluchen wird, die ihn verfluchen. Dieser Bund hat seine Erfüllung aus neutestamentlicher Sicht vollständig in Christus gefunden. Diejenigen, die Christus verfluchen, sind verflucht. Unbestritten ist, dass der Same Abrahams, das Volk Israel (und aus diesem Christus hervorgehend), das Mittel für den Segen Gottes für alle Menschen war. Aber es sind keine getrennten Verheißungen, die nichts miteinander zu tun hätten, sondern Schatten und Original.

Es lohnt sich daher tatsächlich für eine grundsätzliche Anwendung des reformatorischen Schriftprinzips zu streiten, den Literalsinn des Textes zu ergründen, jedoch nicht in Form eines Literalismus. Christus und die Apostel widersprechen einem solchen Schriftprinzip wiederholt.

sdg
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Hans-Werner Deppe: Rezension von Wolfgang Nestvogels Artikel „Testfall Israel“