Libertäres

Der Einfluss des Christentums auf die europäische Staats- und Verfassungstheorie und damit auch dem Libertarismus ist immens und kann gar nicht überschätzt werden. Sie wird jedoch wenig beachtet. Dies beraubt die libertäre Idee und damit die Freiheit des Menschen um die entscheidende Komponente und Kraft.

Betrachtet man die Geschichte des Liberalismus bzw. Libertarismus, blickt man zu recht auf Personen wie Immanuel Kant, John Locke oder Wilhelm von Humboldt, weniger jedoch auf Martin Luther, Theodor von Beza oder Samuel Rutherford oder gar die Bibel. Libertäre, wie Roland Baader oder Hans-Hermann Hoppe erkennen dagegen ausgerechnet in den Zehn Geboten bzw. dem Naturrecht, die libertären Grundprinzipien wieder.

Seit der Christenverfolgung im Römischen Reich gewann das Christentum zunehmend Einfluss auf europäische Staatstheorien. Mit „De Civitate Dei“ entwickelte Augustinus von Hippo 413 bis 426 die grundlegende staatstheoretische Idee eines Gottesstaates (civitas dei/caelestis), der zum irdischen Staat (civitas terrena) in einem bleibenden Gegensatz steht. Er formulierte darin, einen bis heute gültigen Grundsatz:

Nimm’ vom Staat das Recht weg, was bleibt dann übrig als eine große Räuberbande?

Augustinus erkannte damit auf Grundlage der Bibel (bspw. Spr29,4, Röm13) grundlegend das Recht als legitimierendes Element echter Staatlichkeit an.

Die Scholastik formulierte, ausgehend von den Entwürfen Augustins (De Civitate Dei) und Thomas von Aquins (Summa theologica, um 1265), eine differenzierte, am Zusammenwirken von Glaube und Vernunft orientierte Staatstheorie aus, in der das Naturrecht den Bezugspunkt bildet.

Mit der zwar nicht systematisch als Staatstheoretie formulieren „Zwei-Reiche-Lehre“ (u.a. in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei “ (1523) zu finden), begründete Martin Luther erstmals eine klare Trennung kirchlicher und politischer Macht. Mit Christusreich und Weltreich unterscheidet Luther zwei Reiche vom Evangelium her. Betont dabei jedoch das Zusammenspiel von Trennung und Einheit. Das Wort Gottes verbindet Evangelium und Gesetz.

Der reformierte Theologe Theodor von Beza (1519-1605) lehrte: alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, das Volk als Souverän, welches sich einen Regenten ausgesucht und ein Kontrakt mit ihm schließt. Da das Volk vor dem König da war, ist der König für das Volk da, nicht umgekehrt und die Macht der Obrigkeit ist durch Gottes Gewürz eingeschränkt.

Für Beza ist klar: Wenn eine Obrigkeit kontraktbrüchig wird. Wenn z. B. ein König seine eigenen Gesetze bricht, sind ihm die Untertanen nicht länger zu Gehorsam verpflichtet. Das große Thema seines Buches „De iure magistratuum“ (Über das Recht der Obrigkeiten, 1573) ist die Unabhängigkeit der Justiz; es zählt zu den Originalquellen des Gedankens der Unverletzlichkeit der Menschenrechte, welcher 200 Jahre später in der amerikanischen Bill of Rights (zehn Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten) Eingang gefunden hat.

Samuel Rutherford (1600-1661), ein weiterer reformierter Theologe, hat mit der Lex Rex: Das Gesetz ist König, eine der wichtigsten Schriften politischer Ethik überhaupt verfasst. Auch er greift auf die Bibel, das Naturrecht und klassische Autoren zurück. Wie Reza betont Rutherford, dass sich die Macht der Könige vom Volk herleitet.

Rutherford führt in Lex Rex, auf Beza aufbauend aus, dass ein Konzept der Freiheit ohne Chaos, eine Freiheit mit Ordnung existiert. Anders ausgedrückt: das Primat des Rechts steht über jeder Regierung, bzw. eine Regierung des Gesetzes an Stelle willkürlicher menschlicher Entscheidungen – mit der Bibel bzw. dem Naturrecht als endgültiger Autorität und Grundlage.

1642 begann in England, ausgehend von John Locke, der direkt oder indirekt auf den Gedanken Rutherfords aufbaute, ein dramatische politische Umwälzung. Dessen ideelle Führer waren John Locke und Samuel Rutherford. Locke, Sohn eines puritanischen Pastors, studierte in Westminster Abbey als Rutherford ebendort seine Lex, Rex schrieb. 1690 systematisierte Locke die politische Vision seiner geistigen Vorgänger.

Samuel Rutherfords Werk und die ältere reformierte Tradition (John Knox, John Ponet, Christopher Goodman, Johannes Althusius etc.), auf der dieses beruhte, hatte zudem einen immensen Einfluss auf die freiheitliche Verfassung der Vereinigten Staaten. Thomas Jefferson und seine Kollegen verwendeten die Theorien von Locke und Rutherford, um ihre Ablehnung König George III. zu verteidigen.

Ein weiteres theologisches Dokument, das die amerikanischen Gründerväter beeinflusste, waren die Westminster Confession of Faith von 1656. Dieser Text stand, nach der Bibel, im vorrevolutionären Neuengland mit mehr als 5 Millionen gedruckten Exemplaren an zweiter Stelle. Tatsächlich hat James Madison, auch als einer der „Väter der Verfassung“ bekannt, viele der Prinzipien der Westminster Confession in die Verfassung integriert (siehe: The Genevan Reformation and the American Founding von David W. Hall).

John Locke entwickelte die Gedanken der reformierten Theologen konsequent weiter und rückte das Individuum als Handelnden in das Zentrum. Er arbeitete heraus, dass das Naturrecht den Bereich betrifft, in welchen kein Staat eingreifen darf. Das Naturrecht als Abwehrrecht gegen den Staat. Locke erkannte weiterhin, dass aus den zwei Naturrechten, des vollständigen Eigentums an Person und Arbeit, alle anderen Rechte ableiten werden können.

Mit der Französische Revolution in den Jahre 1789 bis 1799 erlitt die Freiheitsentwicklung jedoch- trotz weiterer temporärer Erfolge- einen erheblichen Schaden und die Idee der Trennung von Kirche und Staat entwickelte sich in eine völlig andere Richtung. In ganz Europa setzte eine Entwicklung der vollständigen Säkularisierung des Christusreiches ein bzw. das Staatsverständnis eines machiavellistischen Macht-Staates durch, welches den Staat, im Gegensatz zu der reformatorischen Lehre der Zwei-Reiche vergötzte.