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Beherrsche Dich selbst!

Andreas Dück, Pastor in der Freien Kirchengemeinde Warendorf, hat auf Evangelium21.net – eine reformatorisch ausgerichtete Seite – einen Artikel mit der Überschrift „Herrsche!“ veröffentlicht. Ein wichtiges Thema — ein reformatorisches Gegenplädoyer.

A. Dück beleuchtet das Thema u. a. aus dem Blickwinkel der vier Mandate: Familie, Staat, Arbeit und Gemeinde (Dietrich Bonhoeffer). Die reformatorische Theologie spricht auch von der Dreiständelehre (Martin Luther).

Die reformatorische Theologie ist fundamental geprägt von diesen drei »Ständen«: der Kirche (ecclesia), des Haushalts bzw. Arbeit (oeconomia) und der Zivilordnung (politia), deren Lebens- und Aufgaben- und Autoritätsbereiche einerseits klar voneinander zu unterscheiden sind, denen jedoch alle Menschen zugleich angehören, deren Autoritäten*¹ sich sämtlicher Übergriffe in die Aufgabenbereiche des jeweils anderen zu enthalten haben und als Regierweisen Gottes durch das Wort Gottes in Evangelium(-sverkündigung) und Gesetz(-esanwendung) miteinander verbunden sind. Einig waren sich die Reformatoren auch in ihrer Einschätzung, dass diese Schöpfungsordnung auch bei den Heiden vorzufinden ist.

Zu welchen Ergebnissen kommt nun A. Dück? Soll der Mensch über den Menschen herrschen (er nennt es „gestalten, verwalten, entwickeln, verändern“ …) oder existiert nur eine abgeleitete Autorität, ordiniert von Gott bzw. unter seiner Herrschaft?

In seinem Artikel führt A. Dück viel Gutes und Richtiges aus, aber beim Lesen seines Artikels meine ich vier Irrtümer zu entdecken:

  1. Dem Menschen wird ein Recht auf Herrschaft über andere Menschen zugestanden
  2. Die Gleichsetzung souveräner Herrschaft mit delegierter Autorität (Dreiständelehre)
  3. Fehlende Unterscheidung zwischen Evangelium und Gesetz (Zwei Regimenter)
  4. Verwechslung von Anarchie und Anomie

1. Dem Menschen wird ein Recht auf Herrschaft über andere Menschen zugestanden

In den ersten Absätzen des Artikel geht es um die Herrschaft des Menschen nicht nur über die Schöpfung, sondern explizit auch über den Menschen. A. Dück argumentiert, dass diese lediglich durch den Sündenfall korrumpiert wurde. Das geht allerdings so aus der Schrift nicht hervor. Der Mensch ist und bleibt primär nur Haushalter bzw. Verwalter unter der Herrschaft Gottes. In deutschen Übersetzungen von Psm8:7 oder Gen1:26 werden die benutzten hebräischen bzw. griechischen Begriffe („dominieren“, „kontrollieren“ etc.) zwar regelmäßig mit »Herrschaft« bzw. »herrschen« übersetzt, dass ist jedoch nur eine von mehreren Übersetzungsmöglichkeit.

Entscheidend dabei: der Mensch wird tatsächlich beauftragt über Fische, Vögel, alles Vieh und alles Gewürm — keinesfalls jedoch über andere Menschen zu herrschen. A. Dück spricht zwar von „missbrauchter Herrschaft“ und führt diesbezüglich Beispiele an, unterscheidet jedoch nicht zwischen legitimer Autorität unter der Herrschaft Gottes, und illegitimer Herrschaft von Menschen über Menschen, die nur Gott allein zukommt.

»In dem Buch Genesis lesen wir, wie Gott den Menschen als Herrscher über andere Geschöpfe – die Tiere – und als Verwalter der Erde einsetzte. Aber er hat uns nicht die Macht gegeben, übereinander zu herrschen.«

| O. Guinness, Magna Carta der menschlichen Freiheiten

Der Mensch ist laut Bibel tatsächlich zur Herrschaft im Sinne von Haushalterschaft berufen: über Fische, Vögel, alles Vieh und alles Gewürm, nicht jedoch über andere Menschen (1Mo1:26). Das ist der erste Irrtum. Kommen wir zum nächsten.

2. Die Gleichsetzung souveräner Herrschaft mit delegierter Autorität (Dreiständelehre)

Geteilte Souveränität existiert nicht, zu keinem Zeitpunkt, an keinem Ort. Wir alle leben, existieren »coram Deo« („Vor Gottes Angesicht“). Gott ist der Souverän ob der Mensch dies weiß, anerkennt oder nicht. Herrschaft ist unteilbar, entweder Gott oder der Mensch herrscht. Das Konzept legitimer Autorität in der Gemeinde, der Familie oder der Zivilgesellschaft steht und fällt mit der Anerkenntnis der Souveränität und Herrschaft Gottes, seiner Gebote und deren sinngemäßen Umsetzung. Ansonsten ist es lediglich illegitime, angemaßte Macht/Gewalt.

»Zwar hat Gott den Eltern und den Obrigkeiten auf Erden Recht und Macht gegeben, uns zu befehlen. Aber alle irdische Herrschaft ist allein begründet in der Herrschaft Gottes, in ihr hat sie Vollmacht und Ehre, sonst ist sie Usurpation und hat keinen Anspruch auf Gehorsam. Weil wir allein dem Gebot Gottes gehorchen, darum gehorchen wir auch unseren Eltern und der Obrigkeit. Unser Gehorsam gegen Gott verpflichtet uns zum Gehorsam gegen Eltern und Obrigkeit. Nicht aber ist jeder Gehorsam gegen Eltern und Obrigkeit schon Gehorsam gegen Gott. Niemals gilt unser Gehorsam Menschen, sondern er gilt allein Gott.«

| Dietrich Bonhoeffer

Eine zentrale Bibelstelle, mit der die Herrschaft des Menschen über andere Menschen gerechtfertigt wird, und die von dieser »Macht« bzw. »Gewalt« spricht, ist Römer 13. Luther übersetzte den hier benutzten Begriff mit »Obrigkeiten«, obwohl aus dem griechischen Ausdruck (ἐξουσίαις ὑπερεχούσαις) keineswegs ein Recht zu herrschen hervorgeht. ἐξουσία bedeutet Autorität/Macht*², ὑπερεχούσαις bedeutet darüber befindlich. Sinnvoller und dem Kontext folgend wäre es hier, von einer Autorität/Macht auszugehen, die mit Rechtsprechung beauftragt ist.

»Gott teilt seine Ehre/Autorität ausnahmslos mit dem Amt, nicht dem Stand oder der Person. Wäre dies nicht so, würde das Unrecht oder die Sünde auf Gott zurückfallen, da keine rechtmäßige Autorität existiert, die nicht von Gott ausgeht. Wenn also einem Tyrannen widerstanden, dieser beseitigt wird, geschieht dies im Auftrag bzw. durch Gott selbst. Davon unbenommen wird das Reich Christi nicht durch „Rat oder Waffen“ errichtet.«

| Magdeburger Bekenntnis, Zweiter Teil (Apologie), Drittes Argument

Wer die Herrschaft innehat, besitzt das alleinige Verfügungsrecht und die Verfügungsgewalt über sein Eigentum. Die souveräne Königsherrschaft Gottes ist ein göttlicher Ehrenname, die keinem anderen zustehen kann, denn allein der göttlichen Majestät. Sie nämlich kann und tut (wie Psalm 115, 3 sagt) alles, was sie will, im Himmel und auf Erden. Nein, Gott hat seine Herrschaft über die Menschen niemals abgetreten, er ist König. Gott hat lediglich die Verwaltung, Haushalterschaft über seine Schöpfung (1Mo1:26) ordiniert und delegiert, hat verschiedene Bereiche geschaffen, in denen er Autorität und Ämter ordiniert hat: Kirche (ecclesia), Familie/Arbeit (oeconomia) und als Notordnung im Zivilleben der Menschen (politia) zur Lösung rechtlicher Konflikte. Menschliche Herrschaft bedeutet Rebellion bzw. Usurpation der Herrschaft Gottes.

3. Fehlende Unterscheidung zwischen Evangelium und Gesetz (Zwei Regimenter)

So, wie Gottes Herrschaft, seine Regentschaft in der Kirche umgesetzt und er durch die persönliche »Erlösung« des Menschen verherrlicht wird (Evangelium), wird er auch durch die Gewährleistung einer öffentlichen Zivilordnung unter seiner Königsherrschaft verherrlicht (Gesetz).

»Jegliche Autorität in Kirche, Ökonomie (Familie, Wirtschaft etc.) und Politik (zivile Gemeinschaftsordnung), die nicht im Widerspruch sondern Übereinstimmung mit Gottes Wort und der Vernunft ist, ist eine wahrhafte, geheiligte Verordnung Gottes, deren Werke gefallen ihm, machen den Gläubigen gottgefällig, ordnen die Zivilgemeinschaft mit äußerer Disziplin und sind zur Anbetung Gottes geeignet. Die Autoritäten sind dabei verschieden, sollen nicht vermischt werden, mit eigenem Zweck, eigener Aufgabe, jeweiliger Über- und Unterordnung, eigenem, verschiedenartigem Recht, eigenständiger Autorität, vernünftigen Gesetzen, Vorschriften, einander helfend, alle mit dem Ziel der Erkenntnis Gottes und des Heils oder wenigstens einer sekundären Art des Wohlergehens./

| Erster Teil des Magdeburger Bekenntnisses (Bekenntnisteil)

A. Dück schreibt „die ultimative Lösung liegt nicht in der Begrenzung der Macht, sondern in ihrer Erlösung.“ Damit hebt er die Unterscheidung von Evangelium und Gesetz auf. Es ist Gott selbst, der die Autorität/Macht der zivilen Autoritäten auf genau eine Aufgabe begrenzt: das »Gesetz«, die Bestrafung der Bösen und Wiedergutmachung für die Guten: das beschreibt keine „Herrschafts-DNA“, sondern Jurisdiktion*³. Alles andere hieße Gott nicht zu geben, was Gott gehört.

Sein Konzept der „ultimativen Erlösung“ passt in Hinblick auf „Regierung und Staat“ nicht, unterscheidet die zwei Regimenter bzw. Reiche nicht. »Erlösung« bezieht sich auf das Heil der dazu erwählten Menschen und damit der Schöpfung insgesamt, aber es existiert nur ein Herrscher, dem sich letztlich alle Knie – freiwillig oder nicht – beugen werden. Das ist das Konzept »souveräner Herrschaft«.

Dück spricht also richtigerweise Lord Actons Satz „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“ an, zieht jedoch die falschen Schlüsse daraus. Gottes „ultimative Lösung“ ist nicht ausschließlich Erlösung. Gottes ultimative Lösung besteht aus Evangelium und Gesetz, Errettung und Gericht. Dies ist A. Dücks dritter Irrtum.

4. Verwechslung von Anarchie und Anomie

Andreas Dück macht viertens einen weiteren, grundlegenden und verbreiteten Denkfehler. Anarchie*⁴ (ohne Herrschaft) bedeutet nicht Anomie (Chaos und ohne Hierarchie), sondern eine sich natürlich bzw. im Rahmen von Gottes Ordnung entwickelnden Ordnung und Hierarchie. Anarchisten – egal ob Christen oder nicht – lehnen die Ausübung von Autorität oder das Vorhandensein von Hierarchien keineswegs ab. Sie lehnen jedoch das Prinzip monopolisierter und damit tyrannischer, menschlicher Gewalt bzw. Herrschaft ab.

Natürliche Autorität bzw. Autorität im Rahmen der biblischen Ordnung – Familie/Arbeit, Kirche, Zivilordnung – ergibt sich aus der familiären Beziehung zwischen Eltern u. Kinder, der Lehrbeziehung von Lehrern u. Schüler etc., ergibt sich weiterhin aus Eigentumsverhältnissen (Grundstück/Wohnung/Besitz), freiwilligen Verträgen oder aufgrund der Notwendigkeit der Konfliktlösung bei der Verletzung von Leben und Eigentum. Kein Anarchist bestreitet diese Formen von Autorität und Hierarchie oder lehnt diese ab.

Wenn also die Schrift in AT (Genesis, den Psalmen etc.) und NT (bspw. Römer- oder Petrusbrief) von Autorität/Macht etc. spricht, spricht sie nicht von jeweils vorfindbarer bzw. usurpierter menschlicher Herrschaft, sondern von einem allgemeinen Prinzip von Autorität unter der Herrschaft Gottes. Das heißt dann auch für Regierung/Staat, dass diese nicht, wie Dück schreibt: „Herrschaft positiv zu füllen“ haben, sondern, dass die Befugnis ihrer Autorität unter der Herrschaft Gottes klar auf ihre definierte Aufgabe limitiert, begrenzt ist: Jurisdiktion!

Die Bibel warnt den Menschen vielmehr von Anfang an vor der Herrschaft des Menschen über den Menschen (1Sam8 setzt politische Herrschaft bspw. mit Krieg, Knechtschaft, Ausbeutung und Ablehnung Gottes gleich). Aber der Mensch wollte und will offenkundig bis heute lieber in Knechtschaft als in Freiheit leben. Selbst Christen und Kirchen stützen diesen heidnischen Brauch.

Gott allein verfügt als Schöpfer und souveräner Herrscher über aller Dinge über Macht, ist allmächtig. Souveräne Herrschaft ist ein Kennzeichen seiner göttlichen Majestät und diese ist unteilbar. Wenn er bspw. seine Propheten oder Apostel (->Gesandte) mit Autorität ausstattete, verblieb die Herrschaft bei Gott. Autoritäten handeln »im Namen« Gottes. Dies gilt in unterschiedlicher Weise für Autorität in der Familie, in der Gemeinde oder in der Zivilgesellschaft. Nur solange die jeweilige Autorität richtig ausgeübt, diese nicht überschritten wird, kann der jeweilig im Auftrag Gottes Handelnde Gottes Autorität für seinen Dienst beanspruchen.

Menschliche Autorität über andere Menschen ist und bleibt auf ewig durch Gottes Anweisungen begrenzt. In der Familie, in der Kirche und im zivilen Leben wird den Menschen nur so viel Autorität über andere Menschen gegeben, wie Gott selbst in seinem Wort vorsieht. Deshalb ja, in der Ewigkeit, vor Gottes Angesicht auf Gottes Art wird der Mensch und wahre Gott Christus über alles herrschen, d.h. die Schöpfung gestalten, verwalten, entwickeln, verändern, während wir uns in ihr für immer an Gott erfreuen.

Beherrsche dich also selbst und die Schöpfung, aber keine anderen Menschen!


*¹ Legitime, delegierte, irdische Autoritäten sind von Gott als seine Diener eingesetzt, um durch gottgefällige Leitung und Verwaltung nach Gottes Gesetz und im Gehorsam gegenüber Christus den Menschen in ihrem Zuständigkeitsbereich zum Segen zu wirken (Psalm 2,112; Röm. 13,1; Röm. 13,3-5; 1. Petr. 2,13). Dabei kann es sich um zivile Autoritäten (Röm 13,1; 1 Petr 2,13-14), kirchliche Autoritäten (Hebr 13,17), berufliche Autoritäten (1 Petr 2,18), familiäre Autoritäten (Eph 6,1; 1 Petr 3,1) und sich selbst verwaltende Personen (Spr 25,28; Röm 12,1-2; Mk 12,31; Lev 19,18; 1 Petr 2,16) handeln.

*² In Bauers Wörterbuch zum NT werden zu exusía folgende Bedeutungen genannt:
→ die Freiheit, das Recht zu Handeln
→ die Fähigkeit, das Vermögen, die Macht, die Gewalt zu handeln
→ die Autorität, die Machtvollkommenheit, die Vollmacht, die Befugnis
→ die Herrschergewalt, die Amtsgewalt
→ Machthaber, Beamte, Obrigkeit, Behörde
→ Gewalthaber und Funktionäre des Geisterreiches
→ Umstritten ist die Bedeutung in 1Kor11:10

*³ Autorität ist in dem Maße legitim, in dem sie, von Gott eingesetzt, das Schwert trägt, um das, was zivile Autoritäten in der Schrift eigentlich darstellen, zu erfüllen, nämlich, dass Böse zu bestrafen und das Gute zu loben (Röm 13,3-4; 1 Petr 2,14), entsprechend ihrer zivilen Funktion und Zuständigkeit. Für die Zivilgerichtsbarkeit bedeutet das, dass diese rechtmäßig befugt ist, zivile Verbrechen wie Körperverletzung (2. Mose 21,18-19), Mord (1. Mose 9,5; 2. Mose 21,12), Vergewaltigung (2. Mose 22,25), Diebstahl (2. Mose 22,1), Betrug (3. Mose 19,35-36; 2. Mose 25,13-16), Menschenraub (2. Mose 21,16) und Falschaussage (2. Mose 19,15-19) zu bestrafen, zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrens durch die Zivilgerichte, der Übernahme der Haftung für nachweislich entstandenen Schaden (Ex 21:33) und der Verhältnismäßigkeit der Strafe (Dtn 16:18-20, 17:6, 19:15-21).

*⁴ »Anarchie« wird heute zumeist – den eigentlichen Sinn verfälschend – als Schlagwort für „Chaos und Anarchie“ verwendet. Die tatsächliche Bezeichnung für einen solchen Zustand ist jedoch »Anomie«. Im Laufe der Zeit hat der Begriff »Anarchie« eine starke Bedeutungsveränderung erfahren. Zunächst neutral zur Beschreibung eines Zustandes und zuweilen abwertend zur Beschreibung eines unerwünschten Sachverhaltes verwendet, bevor es schließlich zur Beschreibung eines Gesellschaftsmodells diente. Die Gedankengänge zur »Anarchie« entstanden bereits im Altertum. Der eigentliche Begriff »Anarchie« entstand erst im 19. Jahrhundert als Gegenbewegung und politisches Gegenkonzept zur Monarchie und zur Demokratie. Ursprünglich bedeutete »Anarchie« in der griechischen Antike die Abwesenheit des Alleinherrschers (Archon). Im 18. Jahrhundert wurde »Anarchie« in Lexika zur Beschreibung einer nicht deutlich ablehnend gewerteten Urform von vorstaatlicher Gemeinschaft und Gesellschaft herangezogen. Immanuel Kant definierte »Anarchie« als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«.

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