Können Christen Anarchisten sein?
Vor einiger Zeit wurde auf Facebook folgende Frage gestellt: „Können Christen Anarchisten sein?“ Eine durchaus berechtigte und spannende Frage. Setzt man Anarchie doch landläufig mit Chaos, Willkür, Gesetzlosigkeit etc. gleich. Doch Anarchie bedeutet zunächst einmal nichts anderes als Herrschaftslosigkeit.
Im politischen Diskurs wird der Begriff bzw. das Konzept dann auch primär im sozialistischen Milieu verwandt. Letztlich geht es aber um nicht mehr, aber auch nicht weniger, als um die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt. Dies wird wohl der Hintergrund eingangs gestellter Frage sein. Aber dazu später mehr.
Zunächst einmal ist unstrittig, dass die Bibel „Obrigkeit“ voraussetzt. Daher erscheint die Frage nicht nur berechtigt, sondern augenscheinlich bereits abschließend beantwortet. Natürlich gehört eine Regierung, ein Staat in das Mindset von Christen, insbesondere ausgehend von Römer 13. wird doch der Staat an sich, als die von Gott eingesetzte Obrigkeit verstanden. Ist mit Obrigkeit jedoch tatsächlich die Herrschaftsform eines Staates gemeint?
Ich behaupte nein. Nachdem Israel die unmittelbare Herrschaft Gottes verwarf und sich, wie die benachbarten Volker einer irdischen Herrschaft, einem König unterwarf, benennt die Schrift zwei wesentliche Kriterien irdischer Obrigkeit: die Aufgabe der Rechtsprechung bzw. – durchsetzung und das Recht dafür eine Geldleistung (Steuern) zu bekommen.
»Ein König gibt durch Recht dem Lande Bestand, wer aber Steuern häuft, richtet es zugrunde.«
— Die Bibel, Sprüche 29:4
An vielen Stellen findet sich dies wieder. U. a. ausführlich in Römer 13. Gott spricht in Sprüche 29 allerdings bereits das entscheidende Problem an und weil ich es nicht besser formulieren kann, zitiere ich Hans-Herman Hoppe:
»Könige wurden schnell und in zunehmendem Maß zum Gegenteil dessen, wofür sie angeblich bestimmt waren: zu enteignenden Eigentumsschützern und rechtsbrechenden Rechtsbewahrern. Recht wurde zu Gesetzgebung, und Eigentumsschutz wurde gleichbedeutend mit Enteignung und Besteuerung.« Quelle
Ohnehin entspricht der moderne, herbeirevolutionierte demokratische Staat keiner biblischen Ordnung, wie bspw. „Familie“, „Kirche“ oder „Königtum“, sondern ist bestenfalls und solange den Menschen „zugut“ (Röm13:4), wie dieser Staat dem Gesetz Gottes nicht widerstrebt. Tut er dies, ist er, um mit Augustinus zu sprechen, nichts anderes als ein Räuber.
»Nimm’ vom Staat das Recht weg, was bleibt dann übrig als eine große Räuberbande?«
— Augustinus von Hippo
Äußerst fragwürdig daher, die Legitimation der Demokratie als Herrschaftsform. Insbesondere unter der Prämisse, dass Parlamente oder Regierungen willkürlich Gesetze nach eigenen Vorstellungen und Werten beschließen, um diese dann zu „Recht“ zu erklären. Eine völlig absurde Vorstellung!
Daher stellt sich auch aus christlicher Sicht, jenseits von Monarchie, Diktatur etc. die Frage nach Alternativen zur Demokratie. Und hier zurück zur Anarchie. Anarchie, die sehr wohl gesellschaftliche Selbstorganisation und damit Recht, Gesetz und Ordnung besitzen kann. Hans-Herman Hoppe und andere Libertäre benutzen statt dessen eher den Begriff „Privatrechtsordnung“ bzw. -gesellschaft. einem Modell mit Minimalstaat (Minarchismus), oder gleich ganz ohne Staat.
Diese Privatrechtsordnung gründet ausschließlich auf freiwillig verhandelten, realen Verträgen (keinem aufgezwungenen, imaginären Gesellschaftsvertrag) und tradiertem Recht (BGB, Strafrecht etc.). Wobei unabhängige Richter und Gerichte den Platz der Obrigkeit einnehmen und „Steuern“ ausschließlich zu diesem Zweck erhoben werden. Alles andere geschieht im Rahmen freiwilliger Entscheidungen, Verträge und Vereinbarungen.
Abwegig oder neu ist dies zudem nicht. Bevor der moderne Staat unter Bismarck die freiwillige Selbstorganisation der Gesellschaft zerstört und Zwangsmitgliedschaften im staatlichen Monopolsystem eingeführt hat, war die Gesellschaft auf einem durchaus guten Weg die Ideale der Freiheitsbewegungen (Recht auf Freiheit, Eigentum, Sicherheit und auf Widerstand gegen Unterdrückung) zu erreichen. Die Mehrheit war bereits auf die eine oder andere Art freiwillig abgesichert. Aber mit Einführung des bismarck’schen Staatssozialismus bzw. Sozialstaates und moderner Demokratie, als angeblich milder und selbstbestimmter Herrschaftsform, wurde der Weg für eine umfassende, tief in das Privatleben eingreifende und damit letztlich totalitäre Herrschaft gebahnt.
Anarchie bzw. die Privatrechtsgesellschaft wäre dagegen eine zutiefst demokratische Gesellschaftsform. Jeder herrscht frei, gewaltlos und selbstbestimmt über sich und alles was er besitzt und kann, solange er die Herrschaft eines anderen über sich und sein Eigentum nicht beschränkt, tun und lassen was er will. Geschieht dies dennoch, sprechen unabhängige Gerichte Recht.
Dies würde auch der Kirche einen neuen, verlorenen Stellenwert in der Gesellschaft zurückgeben. Denn neben der natürlichen, menschlichen Wohlfahrt in Familie, Nachbarschaft etc., den humanistisch oder christlich begründeten Selbsthilfeorganisationen und Wohltätigkeitsvereinen würde auch diese wieder jene Aufgaben übernehmen, mit der sie sie seit Anfang an beauftragt ist und früher auch ausgefüllt hat.
Deshalb: Können Christen Anarchisten sein? Ja!