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Patriotische Solidarität oder freiwillige Selbsthilfe?

In der aktuell äußerst kontrovers ausgetragenen Diskussion zwischen Libertären und Identitären (zuletzt hier), insbesondere zu den Themen Nation, Einwanderung und Sozialstaat, wird von den Identitären immer wieder der Begriff „patriotische Solidarität“ in den Diskurs eingebracht. Aus libertärer Sicht verdächtig nach nationalen Sozialismus klingend, weisen Identitäre dies- aus nachvollziehbaren Gründen- von sich. Was hat es nun mit diesem „patriotische Solidarität“ auf sich? Und wie kann eine libertäre Antwort darauf aussehen?

Auf Sezession, „Patriotische Solidarität und das Sozialsystem“ vom 21. April 2016 , schreibt Siegfried Waschnig zur patriotischen Solidarität, dass sich diese primär an „ethnokulturellen Notwendigkeiten“, „gleichen Anschauungen und Zielen“ orientiere und „unbedingtes Zusammenhalten“ bedeute. Im Gegensatz dazu unterscheide „Sozialismus“ respektive „sozial“, aufgrund egalitärer Weltanschauung, esplizit nicht zwischen „Herkunft, Talenten und realen Notwendigkeiten“, sei „gemeinnützig, hilfsbereit und barmherzig“.

Identitäre halten nun Libertären vor, diese lehnten „nationale Identitäten und Nationalstaaten als Wegwerfobjekte der Vergangenheit, „Völkerabfall“ (Engels) der Geschichte“ bzw. „Schutzgemeinschaften als unfair und Hindernisse für den Fortschritt ab“ bzw. fordern aufgrund ihrer liberalen Ideologie gar „Bevölkerungsaustausch, den Abbau aller Grenzen und die totale Mobilmachung des Menschen in einem Weltmarkt“ (Sezession, Martin Sellner, Kapitalistische Willkommenspolitik, vom 13. November 2019).

Das sind starke Behauptungen, die jedoch selbst einer oberflächlichen Überprüfung nicht wirklich standhalten (weder v. Mises, erst recht nicht v. Hayek oder Friedman vertreten eine solche Position) und aufzeigen, dass Sellner, wie viele Identitäre oder Nationalkonservative, den Liberalismus als solchen nicht wirklich kennen oder verstanden haben.

Zunächst einmal ist wohl richtig, dass Liberale das Thema offene Grenzen und Migration äußerst pragmatisch sahen und sehen, durchaus aber auch, aus wiederum pragmatischen Gründen (Hayek=Erstarken des Nationalismus, Friedman=Unvereinbarkeit mit dem Wohlfahrtsstaat), kritisch bewerten. Insbesondere Murray Rothbard hat nun eine, ausgehend von Beobachtungen in der Sowjetunion (Massenmigration als Kultur und Sprache vernichtend), dezidiert erkenntnistheoretisch begründete, ablehnende Position offenen Grenzen gegenüber entwickelt und formuliert. In eigentümlich frei, vom 15. November 2019, „Liberalismus und Migration bei Hayek, Friedman und Rothbard – Eigentumsrechte statt offene Grenzen“ schreibt Gérard Bökenkamp über die Position Rothbards:

Offene Grenzen sind kein libertäres Prinzip, sondern ein kommunistisches, weil es davon ausgeht, dass es Ressourcen wie Land, Zugang zu öffentlicher Daseinsvorsorge und Infrastruktur gibt, die praktisch allen Erdenbürgern gehören. Die Position offener Grenzen betrachtet diese als Allgemeineigentum der ganzen Welt und schafft damit das Problem der Allmende. Was allen gehört, gehört tatsächlich niemandem, und dementsprechend geschieht das, was immer geschieht, wenn kein Privateigentümer nach dem Rechten sieht, es verkommt und verödet. Rothbard hat damit mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Sein Modell bietet einen schlüssigen Ansatz, um die negativen Folgen von Massenmigration zu erklären. Er zeigt, dass es auf der Basis eines radikalliberalen Ansatzes möglich und sogar zwingend ist, das Konzept offener Grenzen zu verwerfen, ohne den methodischen Individualismus aufzugeben und etatistische und kollektivistische Konzepte von links oder rechts übernehmen zu müssen.

Damit ist der ersten Behauptung, Liberalismus stehe für „offene Grenzen“ und „Massenmigration“, die argumentative Grundlage entzogen. Wie sieht es nun mit der geforderten „Solidarität“ aus?

Auch hier hat der Liberalismus eine gut begründete Erwiderung. Professor Dr. Philipp Bagus weist in seinem Vortrag „Ein freier Markt für die Bedürftigenhilfe“ nach, dass vor dem Hintergrund der Geschichte und Theorie der freien und privaten Bedürftigenhilfe festzustellen ist, dass diese als Solidarprinzip ausreichend bzw. besser geeignet ist. Der Staat schafft keine neuen Ressourcen, er verteilt diese lediglich schlecht, bürokratisch und mit Eigeninteresse um.

Entgegen der identitären Kritik am Liberalismus, will der Mensch helfen, braucht dafür jedoch auch die Ressourcen. Je reicher eine Gesellschaft und je kleiner der Wohlfahrtsstaat, desto größer ist auch der Anreiz privat zu helfen. Der Ausnahmefall: eine Person ist vollständig mittellos und niemand will helfen. Das wird im Regelfall ein Schwerverbrecher sein. Hier erfüllt der gesellschaftliche Boykott eine wichtige soziale Funktion. Nur wer weiß, dass er bei schweren Verbrechen keine Hilfe mehr erhält, hat ggf. einen Anreiz sich anständig zu verhalten. In den historisch bekannten Selbsthilfeorganisationen wurden Verbrecher rausgeschmissen.

Die Existenz nationaler Solidarität- insbesondere bei einem 80 Millionen Volk, ist offenkundig ein identitärer Mythos. Solidarität in der Familie, zwischen Freunden oder Nachbarn gegenüber, dagegen ohne Beweis jedem einsichtig. Hier kommen aus Sicht des Liberalismus private Hilfe und Unterstützung (private Ersparnisse) bzw. freiwillige Selbsthilfeorganisationen ins Spiel. Professor Dr. Philipp Bagus nennt folgende Beispiele:

  • Versicherungen -> monetäre Entschädigung, genau definierte Schadensfällen, finanzielle Gewinnmaximierung
  • Familie -> Umverteilung auf Grund von Liebe und Zuneigung
  • Selbsthilfeorganisationen -> Gegenseitigkeit, Solidarprinzip, Ermessensspielräume, horizontale, demokratische Struktur, nicht nur monetäre, auch psychologische/spirituelle Hilfe, „Metaversicherung“
  • Wohltätigkeitsvereine -> Hilfsbedürftige kommen als Bittsteller, Abhängigkeit, „ultima ratio“, entweder direkt oder durch Organisationen (Kirche etc.)
  • allg. Nächstenhilfe -> Grundkonstante der menschl. Natur, evolutionär oder christlich begründet, außer Psychopathen, bereits die Frage, was wäre denn ohne Sozialstaat, zeigt, dass dies ein Grundmotiv, ein menschliches Bedürfnis ist, das im Markt nachgefragt und angeboten wird.

Die libertäre Antwort auf die „patriotische Solidarität“ besteht also in einem klaren „Nein Danke“! Und dies aus den o. g. stichhaltigen Gründen.